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Sprach- und Literaturwissenschaftliche Fakultät

Romanische und Allgemeine Sprachwissenschaft – Prof. Dr. Martina Drescher

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Flüche im Québec-Französischen: Ihre Formen und Funktionen im Gespräch

Das Französische Québecs weist eine Reihe von Abweichungen gegenüber dem hexagonalen Französisch auf. Auf der pragmatischen Ebene gehört dazu sicherlich die den québécois nachgesagte Vorliebe für religiös motivierte Flüche vom Typ calice, ciboire oder tabernacle. Die Verwendung dieser so genannten sacres gilt geradezu als Ausweis der québécité, also der Zugehörigkeit zur Gruppe der Frankophonen aus Québec. Bislang wurden die Flüche vor allem aus volkskundlicher und historischer, vereinzelt auch aus semiologischer und soziolinguistischer Perspektive untersucht. Dabei blieben die Funktionen, die Flüche im Gespräch wahrnehmen können, weitgehend unbeachtet. Dies ist insofern nicht verwunderlich, als Flüche gemeinhin als primär sprecherzentrierte und auf den Ausdruck von Emotionen beschränkte sprachliche Äußerungen ohne eigentliche kommunikative Absicht gelten. Eine solche Vorstellung findet sich etwa bei Benveniste (1974:256), der in seinem Aufsatz zu "La blasphémie et l'euphémie" (Problèmes de linguistique générale 2. Paris: Gallimard, 254-257) den Fluch als "une parole qu'on 'laisse échapper' sous la pression d'un sentiment brusque et violent, impatience, fureur, déconvenue" definiert und fortfährt: "Mais cette parole n'est pas communicative, elle est seulement expressive." Folglich vermittele der Fluch keine Botschaft und verlange nach keiner Antwort: "Il ne transmet aucun message, il n'ouvre pas de dialogue, il ne suscite pas de réponse."

Obgleich diese, auf die mit dem Fluchen einhergehende psychische Entlastung abhebende Definition in vielen Fällen ihre Berechtigung hat, verdeckt sie durch die Allgemeinheit ihrer Formulierung auch den Blick auf abweichende Verwendungen von Fluchwörtern. Ohne die primär emotive Motivation vieler Flüche leugnen zu wollen, richtet sich das Augenmerk im Rahmen des vorliegenden Projekts auf ihre eher 'unspektakulären' kommunikativen Verwendungen. Diese – so die These, die hier vertreten wird – ähneln in vielen Fällen Gesprächswörtern wie alors, bon, tu vois, écoute. Noch allgemeiner gesagt scheinen Fluchwörter in bestimmten Verwendungen Diskursmarkern vergleichbar zu sein, einer funktional geprägten Kategorie, deren Vertreter unter formalen Gesichtspunkten sehr heterogen sein können (Adverbien, Konjunktionen, Interjektionen etc.). Diskursmarker tragen zur Strukturierung der Interaktion wie auch zur Koordination der Interaktanten bei. Sie verweisen auf diskursive Planungsprozesse und stellen textuelle Kohärenz her. Genau dies leisten in manchen, noch genauer zu beschreibenden kommunikativen Kontexten auch einige der Fluchwörter. Im Rahmen der bisherigen, auf verschiedene, primär mündliche Korpora des Québec-Französischen gestützten Arbeiten wurde deutlich, dass Flüche dazu beitragen:

  • Äußerungen mit emotivem, wertendem oder subjektivem Charakter zu intensivieren;
  • auf einen nicht vorhersehbaren Themenwechsel zu reagieren;
  • einem Hörersignal (back-channel) eine expressive Note zu verleihen und
  • einen Wechsel der Äußerungsperspektive anzuzeigen.

Vor dem Hintergrund von Phänomenen der Polyphonie und allgemein der diskursiven Heteroglossie ist gerade diese letzte Verwendung von Fluchwörtern ausgesprochen interessant. Diese fungieren nämlich als shifter, also als Marker, die den Übergang von der eigenen, vom Sprecher selbst zu verantwortenden, zu der zitierten Rede markieren. Hier setzen auch die neueren Arbeiten im Rahmen des vorliegenden Projekts an, die zum einen darauf abzielen, die empirische Basis der Untersuchungen zu erweitern und zu diversifizieren und zum anderen die kommunikativen Kontexte, in denen Fluchwörter erscheinen können, genauer zu erfassen, um in einem weiteren Schritt ihre Distribution mit der von 'klassischen' Diskursmarkern zu vergleichen. In theoretischer Hinsicht bieten sich Anknüpfungspunkte zu Ansätzen aus dem Bereich der Pragmatikalisierung, die in künftigen Untersuchungen weiter verfolgt werden sollen.


Das Projekt wurde einmalig durch ein FRP-Stipendium des ICCS gefördert. Folgende Publikationen sind bislang entstanden:

  • Drescher, Martina (2000): Eh tabarnouche! c'était bon. Pour une approche communicative des jurons en français québécois. In: Cahiers de Praxématique 34, 133-160.
  • Drescher, Martina (2002a): ‚Eh tabarnouche! c'était bon.‘ Für eine kommunikative Sicht frankokanadischer Flüche. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur, Band 112, Heft 1, 4-25.

  • Drescher, Martina (2002b): Madonna oh ma questo è un pettegolezzo brutto. Italienische Fluchwörter und ihre Funktionen in der Kommunikation. In: Italienisch 47, Mai Heft 2002, 42-66.

  • Drescher, Martina (2005): là tu te dis putain c'est souvent chaud – Jurons et hétérogénéité énonciative. In: Travaux de Linguistique, 49, 2004/2, 19-37.

  • Drescher, Martina (2006): Flüche als Indikatoren der Redewiedergabe im Québec-Französischen. In: Romanische Forschungen, 118/1, 5-32.

  • Drescher, Martina (2009): Sacres québécois et jurons français: Vers une pragmaticalisation des fonctions communicatives? In: Niederehe, Hans-Josef / Wolf, Lothar (Hg.): Canadiana Romanica 18. Tübingen: Niemeyer.

Verantwortlich für die Redaktion: Univ.Prof.Dr. Martina Drescher

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